Freitag, 5. Oktober 2012

Anachronox (PC Review)


Genre: Rollenspiel
Erschienen: 10. Juli 2001 für PC
Alterseinstufung: USK 12

Mit Quake 2 fing es 1997 an und mit Anachronox im Jahr 2001 dürfte eines der letzten wenn nicht sogar das letzte erwähnenswerte Videospiel auf Basis der idtech 2 veröffentlicht worden sein. Doch während sich idtech 6 bereits für Doom 4 und Quake 5 in Entwicklung befindet habe ich mir 11 Jahre später einmal die Zeit genommen um eines der skurrilsten Werke der Polygon-Ära durchzuspielen.


Wieso also geht man im Jahr 2012 hin und installiert ein technisch derart veraltetes Rollenspiel auf der Festplatte? Die Antwort erscheint mir einfach, denn die Zeit war einfach gekommen nachdem ich mein Exemplar schon vor gefühlten 10 Jahren am Grabbeltisch gekauft hatte – wahrscheinlich war es sogar genau so. Seitdem zwinkerte mir Hauptfigur Sly Boots in seiner charmant-sarkastischen Art und Weise von der Verpackung zu dem ich jetzt einfach nicht mehr widerstehen konnte. Und hätte ich und viele andere schon damals am Veröffentlichungstag erkannt, gespielt und berichtet wie außergewöhnlich toll dieser Titel ist, wäre der Nachfolger Anachronox Prime vielleicht sogar noch erschienen. Bei Anachronox handelt es sich nämlich lediglich um den Beginn eines epischen Abenteuers, dafür spricht nicht nur die hastige Veröffentlichung kurz vor Schließung des Studios Ion Storm in Dallas. Die amerikanischen Entwickler hatten nämlich bereits im Vorfeld gleich 4 der heißesten Videospiel-Eisen im Feuer: Daikatana unter der Leitung von John Romero, Deus Ex von Warren Spector, außerdem das nie erschienene Doppelganger. Und natürlich Anachronox von Tom Hall, das erst über 3 Jahre nach dem ursprünglich angedachten Release-Datum ziemlich unfertig erschien. So dürfte insbesondere der Zustand von Version 1.0 zu den schlechten Verkaufszahlen beigetragen haben, denn auch noch aktuell plagen einige Fehler das Erlebnis, was es mitunter schon zur Herausforderung macht überhaupt den Startbildschirm zu sehen oder wichtige Aufträge abzuschließen um in der fantastischen Story voranzukommen. Hilfreiche Lösungsansätze dieser Probleme habe ich bereits in der Vergangenheit hier und da zusammengefasst. Darüber hinaus freuen sich deutsche Spieler über eine wirklich gelungene Textübersetzung, nicht nur Untertitel werden so eingedeutscht sondern auch beinahe alle Anzeigen im Spiel.


Wenn man als Spieler nach 25 bis 30 Stunden im Nachhinein über die fantastisch präsentierte Geschichte mit seinen verrückten Vorkommnissen vor und nach den tollen Zwischensequenzen, außergewöhnlichen Perspektiven, abgedrehten Charakteren, skurillen Dialogen oder dem grandiosen Humor sinniert ist es auch in der hier dargelegten Textform nicht einfach seine Begeisterung zu zügeln, insbesondere im Hinblick auf eine schon damals hoffnungslos veraltete Technikbasis. Auch als Film funktioniert der Titel daher überragend, wie man an Jake Hughe´s Preisgekröntem Zusammenschnitt nachvollziehen kann. Wirken Szeneriestisch ähnlich angelegte Science-Fiction-Cyberpunk-Spiele wie Blade Runner oder Mass Effect noch ernsthaft unterkühlt, dominieren bei Anachronox vollkommen gegenteilige Gefühle von wohliger Wärme obwohl es auch hier um nichts geringeres als die Rettung der Galaxie rund um den Planeten Anachronox geht. Und wer käme besser dafür in Frage als ein abgehalfteter Privatdetektiv, der in der Anfangssequenz durch das Fenster seines schäbigen Büros geschmissen wird. Härter als gewollt auf dem Boden der Tatsachen gelandet sucht der Hauptprotagonist Sly Boots nach einem Job um seine Schulden tilgen zu können – selbst dieser Umstand wird nicht vernachlässigt sondern ist ein weiteres wichtiges Puzzleteil der verzwickten Story. Selbst der unscheinbare Barkeeper, ein stillgelegter Roboter namens PAL, der in die Spielwelt eingebundene Mauszeiger Fatima und der erste Auftraggeber sogleich Gruppenmitglied Grumpos spielen bereits eine ungemein wichtige Rolle. Mit ihm zusammen lautet der erste große Auftrag das mysteriöse Mystech zu ergründen, von dem überall in Anachronox die Rede ist. Nachdem dieser Job für Sly nach einer Begnung mit dem Untergrundboss Detta bereits erledigt scheint, beginnt eine völlig famose Schnipseljagd durch die ganze Galaxis. Und dabei spielt Sly´s Vergangenheit eine ganz wichtige Rolle.


Im Kern handelt es sich bei Anachronox um ein relativ lineares Rollenspiel aus der Verfolgerperspektive. Man hat weder Einfluss- oder Entscheidungsmöglichkeiten auf etwaige Charakterwerte oder gar den Verlauf der Geschichte, Spielfiguren können aber mit gesammelten Gegenständen und Waffen ausgerüstet werden. Zusammen mit zwei von sechs möglichen Mitstreitern streift er durch die übersichtlichen Areale, handelt mit Ware, nimmt Aufträge an, knipst Fotos, sammelt Objekte, führt außerhalb der Zwischensequenzen nicht vertonte Text-Dialoge, drückt vorzugsweise Knöpfe oder Türen und kämpft taktisch in einer Art rundenbasiertem Echtzeitsystem u.a. gegen große Teddybären, Mafiosi oder Mutanten. Hier kommen nicht nur die abgedrehten Waffen zum Einsatz, sondern je nach Spielfigur auch besondere Eigenschaften die sich im Laufe des Abenteuers noch verbessern können. Beispielsweise schlägt Grumpos vornehmlich mit seinem Kampfstab zu und beweist sich alternativ noch als Großmeister des Jammerns. Diese Fähigkeit erfüllt ihre Dienste aber auch außerhalb des Kampffeldes, wird dann aber wie die Besonderheiten der anderen Charaktere mit mehr oder weniger simplen Minispielchen aktiviert. Sly kann Schlösser knacken, PAL Systeme hacken, Rho analysieren, Paco komplett ausflippen, Stiletto ihrem Namen alle Ehre machen und der Planet Democritus weit entfernte Gegenstände einsacken. Richtig gelesen, zu den Teammitgliedern gehört ein Planet. Wie es dazu kommen kann? Man muss es erlebt haben…


Während sich die abwechslungsreichen Hauptaufträge gut einfügen, bestehen optionale Nebenmissionen aus Sammelaufgaben und können vernachlässigt werden zumal sie im Tagebuch nicht aufgenommen werden. Stattdessen bezieht Anachronox einen Großteil seiner Faszination aus der Spielwelt: Hinter jeder Ecke könnte etwas versteckt sein, jede Figur hat etwas Interessantes zu erzählen. So wirkt jeder Schauplatz trotz der hoffnungslos veralteten Technik absolut lebendig und glaubwürdig. Dieses Auskundschaften ist dabei Mittel zum Zweck, denn eine hilfreiche Kartenfunktion fehlt. Überhaupt wird dem Spieler hier nichts geschenkt, es wird relativ wenig über die Spielmechaniken erklärt und auch das Tagebuch beschränkt sich auf absolute Notwendigkeiten. Trotzdem ist immer ein gewisser roter Faden vorhanden, die nächste Hauptmission immer im Auge: Seien es nun waschechte Kriminalfälle wie die Aufklärung eines Diebstahls, Kindesentführung, der ungesehenen Beschattung einer Spielfigur oder dem Orakel eine stinkende Socke zum Kauen vorzulegen.


Auch auf der technischen Seite gilt Anachronox als Spezialfall, denn während Fachwelt und ihre Gefolgschaft bereits über Vorabpräsentationen von Doom 3 mit ihrer neuen id-Technologie sämtliche Sinne verlor, sah der Titel plötzlich steinalt aus. Doch wie schwache Texturen gepaart mit gröbster Klobigkeit hier durch fantastisches Design in filmreifer Präsentation, enorme Detailverliebtheit, witzigen Animationen sowie Mimik und Gestik der Figuren übertroffen werden sucht seither ihresgleichen. Vor allen Dingen tragen beide letztgenannten noch überaus positiv zum Kultstatus bei, denn dadurch gewinnt Anachronox enorm an Glaubwürdigkeit ihrer ohnehin schon ausgefallenen Charaktere. Ebenso weiß eine immer wieder qualitativ verblüffende englische Sprachausgabe zu überzeugen, im Zusammenspiel mit jederzeit passender Musikuntermalung ein weiterer von unzähligen Pluspunkten des Abenteuers. Selbst die Steuerung funktioniert beinahe tadellos und ist schnell erlernt.


Fazit: Was damals so unscheinbar und von vielen unentdeckt im Jahr 2001 veröffentlicht wurde, ist heute ein absolut einmaliges Kultspiel mit vielen fantastischen Momenten trotz einer hoffnungslos veralteten Technikbasis. Wer auf abgefahrene Videospiele steht, sollte es einmal gespielt haben - egal wie viele Jahre nach der Veröffentlichung.


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